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commasplice
3057 Words / 1 Recordings / 2 Comments
Note to recorder:

this article is very long! I will record an equally long English article in response. Normal talking speed is fine. Danke schoen!

Die Aussicht ist schier überwältigend. John Grubbs Büro liegt im 16. Stock eines Wolkenkratzers, mitten im Financial District von San Francisco. Vor der Panoramascheibe funkelt im Sonnenlicht das Wasser in der Bucht, als sei es aus flüssigen Diamanten gemacht. Tief unten brummt der Hafenbetrieb, die Touristen hängen in Trauben an den bimmelnden cable cars, über die Brücken strömt der Verkehr, und jenseits des Wassers liegt Berkeley, immer noch eine der weltbesten Universitäten.

Kalifornien, der bevölkerungsreichste Staat der USA, ist von einer Schönheit, die den Atem verschlägt. Das Land ist gesegnet mit Reichtum und Energie, mit Ideen und einem unausrottbaren Optimismus. Fast vierzig Millionen Menschen leben hier. Wäre Kalifornien ein unabhängiger Staat, sein Präsident würde regelmäßig an den G-20-Gipfeltreffen teilnehmen. Hier liegen Hollywood und Silicon Valley, die Heimat von Google, Apple und Facebook, hier ist der Ort, an dem die neuen Visionen der Welt produziert werden. Grubb starrt aus dem Fenster. »Kaputt,« sagt er. »Unser politisches System ist kaputt. Wir sind das Griechenland der USA. Ein gescheiterter Staat.«

John Grubb, 42 Jahre alt, sieht aus wie ein junger Banker. Blaues Hemd, rote Krawatte, eine Spur Gel im Haar. Er ist Senior Vice-President des Bay Area Council, einer Art Handelskammer, zuständig für Presse und Kommunikation. Aber wenn er von seinem Heimatstaat spricht, hört er sich an wie ein Konkursverwalter: »Unsere Schulen waren früher einmal die besten Amerikas – heute sind sie kriminell unterfinanziert. Unsere Wasserversorgung steht vor dem Kollaps. Die Gefängnisse sind überfüllt. Sechs der zehn Städte mit der schlimmsten Luftverschmutzung der USA liegen in Kalifornien. Die öffentlichen Finanzen sind ein Albtraum. Und unser Wahlsystem produziert Ideologen, die keine Reformen zustande bringen. Wir haben uns selbst unregierbar gemacht.«

»Unregierbar« – das ist das politische Modewort dieses Spätsommers. So grandios Kalifornien im Boom glänzt, so spektakulär ist es im Niedergang.

Grubb wollte ihn verhindern. Mit einer Revolution. Gemeinsam mit vielen anderen hat er Repair California gegründet, eine Bürgerinitiative, die den Bundesstaat an der Westküste retten sollte. Wäre alles nach Plan gegangen, hätten die Wähler von Kalifornien in diesem November über den Vorschlag von »Repair California« abgestimmt, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Und in zwei Jahren hätte der Bundesstaat am Pazifik ein neues Grundgesetz bekommen. Kürzer, einfacher, weniger bürokratisch. Mit besseren Verfahren, Mehrheiten zu organisieren. Mit intelligenteren Formen der Bürgerbeteiligung. Ein frischer Start für den Golden State.

Es war ein beinahe verzweifelter Versuch, Kalifornien aus seiner Agonie zu reißen. Die Macht der Ideologen und Lobbyisten zu brechen. Die Demokratie neu zu begründen. In Kalifornien. Und am Ende vielleicht in ganz Amerika. Nur: Es hat nichts genützt. Der radikale Neuanfang ist gescheitert, ehe er richtig begonnen hat. Das ancien régime , die alte Macht, hat zurückgeschlagen, und sie hat triumphiert. »Ob ich frustriert bin?« John Grubb schaut, als könne er die Frage kaum fassen. »Ich bin total frustriert. Niedergeschlagen. Besiegt.« Im Hintergrund glitzert die Bucht.

An einem Augusttag 2008 hatte der Revolutionsversuch begonnen. Grubb war mit seinen Kollegen vom Bay Area Council nach Sacramento gefahren, in die Hauptstadt Kaliforniens. Sie wollten, wie immer bei solchen Besuchen, über neue Straßen, Staudämme und Schnellbahntrassen sprechen. Über den Verkehrsinfarkt in Los Angeles. Über das antiquierte Stromnetz, das bei jedem Gewitter zusammenbricht. Über das marode Gesundheitswesen. »Normalerweise«, sagt Grubb, »haben die Politiker uns wenigstens zugehört und erst hinterher mit den Schultern gezuckt. Diesmal nicht. Sie haben uns gleich unterbrochen. Sie sagten: ›Vergesst das alles. Wir haben keine Zeit dafür. Wir stecken fest mit den Haushaltsverhandlungen‹.«

Einen Haushalt zu verabschieden ist in jeder Demokratie schwierig. Es geht um Geld, um Zukunft, um Macht. In Kalifornien aber ist die Auseinandersetzung über das Budget ein titanisches Ringen, das den gesamten politischen Betrieb lahmlegt. Jedes Jahr Anfang Juli müsste das Budget beschlossen werden, und Jahr für Jahr scheitert das Parlament in Sacramento an der Aufgabe. Weil es scheitern muss. Nicht allein am Unwillen oder an den Machtspielen der Politiker, sondern an den Konstruktionsfehlern der kalifornischen Verfassung. Die traditionelle amerikanische Idee von checks and balances, von Gewaltenteilung und wechselseitiger Kontrolle der Institutionen, ist in Kalifornien zu einem absurd verknoteten Durcheinander geworden, das jede Reform blockiert.

»Das politische System Amerikas ist darauf ausgelegt, Veränderungen schwer zu machen. Und das System funktioniert«, sagt Jack Citrin, Professor an der UC Berkeley und einer der angesehensten Politikwissenschaftler Kaliforniens. »Die Gründerväter, die die US-Verfassung geschrieben haben, wollten nicht, dass die Regierung viel Macht hat. Sie wollten ein System, das die Macht begrenzt, teilt und kontrolliert. Große Reformen sind deshalb kaum möglich. Das Problem der Sklaverei zum Beispiel konnte innerhalb des Systems nicht gelöst werden. Dazu brauchte es den Bürgerkrieg.«

Vor Citrins Bürofenster blüht der Oleander, die Studenten laufen in Flip-Flops und T-Shirt vorbei, schwatzen auf Spanisch, auf Koreanisch, Mandarin oder Englisch miteinander, an einem Ohr das Handy, im anderen den iPod, und rufen sich »Have a great day!« zu. Wer sie so sieht, mag kaum an eine existenzielle Krise glauben. Aber ausgerechnet hier, in Kalifornien, im amerikanischen Labor der unendlichen Möglichkeiten verfällt die repräsentative Demokratie, zerfressen Geld, Misstrauen und Gedankenlosigkeit ein politisches System.

Ein paar Stierhoden für den politischen Gegner

Um den Haushalt zu verabschieden, so schreibt es die kalifornische Verfassung vor, braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Einen überwältigenden Konsens also, der in anderen Staaten eigentlich nur für die Änderung der Verfassung erforderlich ist. Das allein macht es schon extrem schwierig, ein Budget zu beschließen. Zustimmen muss aber auch der Gouverneur, der direkt vom Volk gewählt wird. Noch ist das Arnold Schwarzenegger, dessen Amtszeit im nächsten Frühjahr endet. Schwarzenegger ist Republikaner, die Mehrheit im Parlament haben die Demokraten. Ein Patt, das noch dadurch kompliziert wird, dass der Haushalt stets ausgeglichen sein muss. Auch das schreibt die Verfassung vor. Budgetdeals, die dem Gegner Zugeständnisse versüßen würden, sind so kaum zu machen.

Also versuchte es Schwarzenegger, immer noch Kraftprotz und Zocker, im vergangenen Sommer auf die derbe Tour. Nachdem er wochenlang erfolglos mit dem Fraktionschef der Demokraten verhandelt hatte, schickte er seinem Kontrahenten ein Paar Stierhoden aus Bronze: eine wenig dezente Aufforderung, endlich den Mannesmut aufzubringen, einem Kompromiss zuzustimmen – Schwarzeneggers Kompromiss. Doch der Beschenkte, Darrell Steinberg, sandte das melonengroße Gehänge zurück, schaltete auf stur und zwang Schwarzenegger so, den Staatsbediensteten vorübergehend Schuldscheine auszustellen, weil er ihnen ohne Haushalt kein Gehalt mehr zahlen konnte. Es war die ultimative Demütigung.

In diesem Jahr steht es kein bisschen besser. Seit dem 1. Juli hat der Bundesstaat keinen Ausgabenplan mehr, weil sich die Abgeordneten nicht einigen können, wie sie das Defizit von 19 Milliarden Dollar ausgleichen sollen. Kindergärten droht die Schließung, viele Studenten müssen seit fast drei Monaten ohne staatliches Stipendium auskommen, Sozialprogramme werden gestoppt. Am 28. Juli musste Schwarzenegger den fiskalischen Notstand erklären.

Wie aber kann Kalifornien an Geld kommen, um Schulen zu bauen, Beamte zu bezahlen und Krankenhäuser zu finanzieren? Etwa durch Steuererhöhungen? Die sind extrem unpopulär und beinahe unmöglich. Denn auch für Steuererhöhungen braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Das haben die Wähler Kaliforniens 1978 in einer Volksabstimmung beschlossen, um big government, den ausgabenfreudigen Staat zu stutzen.

Neben seinem strukturell gelähmten Parlament nämlich leistet sich Kalifornien auch noch ein exzentrisches System der direkten Demokratie. Faktisch kann jeder, der genug Geld auftreibt, per Volksentscheid das Parlament umgehen und selbst aktiv Politik machen. Die Kalifornier tun es mit Begeisterung: Sie haben beschlossen, dass jeder Straftäter, der zweimal rückfällig wird, lebenslänglich ins Gefängnis muss. Sie haben Kindern illegaler Immigranten den Besuch staatlicher Schulen untersagt (bis ein Bundesgericht diese Regelung aufhob). Sie haben die Homosexuellen-Ehe verboten (auch darüber wird gerade vor Gericht gestritten). Sie haben die Grundsteuern für ihre Immobilien faktisch eingefroren, mit dramatischen Folgen für die Haushaltspolitik. Und sie haben zahllose staatliche Programme beschlossen, die eine Menge Geld kosten. Geld, das der Staat nicht hat.

»Ursprünglich waren die plebiszitären Elemente einmal eine gute Idee«, sagt Jack Citrin. »Die direkte Demokratie half den Bürgern, sich gegen korrupte Politiker durchzusetzen.« Erfunden wurde das kalifornische System der initiatives und propositions Anfang des 20. Jahrhunderts von progressiven Reformern. Die brachen damit die Macht der Eisenbahnbarone, die den Staat nach dem Goldrausch praktisch unter sich aufgeteilt hatten. »Aber heute sind die Initiativen zum Instrument gut organisierter Interessengruppen geworden, die an der Wahlurne erreichen wollen, was sie im Parlament nicht durchsetzen konnten«, erklärt Citrin.

Mit der »Proposition 98« beispielsweise hat die mächtige Lehrergewerkschaft festgesetzt, dass von jedem Dollar, den der Staat Kalifornien zusätzlich einnimmt, 40 Cent in die Schulen fließen müssen. Eine gut gemeinte Idee, aber eben auch eine massive Entmachtung des Parlaments. Und eine schöne Zukunftssicherung für die eigene Klientel, die Lehrer.

In der Hauptstadt Sacramento stehen ganze Straßenzüge leer

Wahrscheinlich funktioniert ein solches System nur in einem extrem reichen Staat. Ein armes Land könnte sich so viel Blockade gar nicht leisten. Nur ist Kalifornien längst kein reiches Land mehr. Die Weltfinanzkrise hat die Wirtschaft am Pazifik besonders hart getroffen. Nirgendwo gingen derart viele Jobs verloren. Nirgends wurden so viele Häuser zwangsversteigert. Die Arbeitslosigkeit liegt bei gut zwölf Prozent, in der Hauptstadt Sacramento stehen ganze Straßenzüge leer. Das hat massive Folgen für die Staatsfinanzen. Weil die Einnahmen aus den Grundsteuern gedeckelt sind, lebt der Staat vorwiegend von Steuern auf Einkommen, Aktien- und Unternehmensgewinne. Das beschert satte Einnahmen in Zeiten des Booms – und drastische Einbrüche bei jeder Rezession. Ausgerechnet in der Rezession also müssen die Abgeordneten in Sacramento entweder Ausgaben kürzen oder Steuern erhöhen, um die Defizite zu bekämpfen. So wie jetzt. Im vergangenen Jahr fehlten im Staatshaushalt 24 Milliarden Dollar, in diesem sind es 19 Milliarden. Er lasse seinen Finanzdirektor rund um die Uhr überwachen, damit der nicht Selbstmord begehe, scherzt Gouverneur Schwarzenegger. Bloß lacht über dessen Witze schon lange keiner mehr.

Die Interstate 5, ein paar Meilen nördlich von San Diego. Der Asphalt flimmert. Auf vierzehn Spuren quält sich der Verkehr durch die Hitze, sieben Spuren führen nach Norden, Richtung Los Angeles, sieben nach Süden, zur mexikanischen Grenze. Es sind vierzig Grad im Schatten – wenn es irgendwo Schatten gäbe. Rechts des Freeway ziehen sich braune Hügel hin, irgendwo links, hinter Sanddünen, liegt der Pazifik im Dunst verhüllt. Über der Schnellstraße hängen wie fette Hummeln die Hubschrauber der U.S. Marines, die hier, im riesigen Camp Pendleton, den Wüstenkrieg üben.

Wer über die Interstate 5 fährt, die Klimaanlage voll aufgedreht, ein Eishauch im Gesicht, bekommt eine Ahnung davon, dass Kalifornien ein Staat wider alle Vernunft ist. Ein Staat, der der Natur permanent abgetrotzt werden muss: Jeden Moment kann ein Erdbeben ganze Städte zerstören. Im Sommer wüten Buschbrände, im Winter reißen Schlammlawinen Menschen und Häuser in die Tiefe. Zwei Drittel der Bevölkerung leben in der trockenen Südhälfte des Bundesstaates, auf der geografischen Höhe von Beirut. Ohne gewaltige Staudämme und weit verzweigte Aquädukte würden Los Angeles und San Diego sofort verdursten. Fast zwanzig Prozent seiner Energieproduktion muss Kalifornien aufwenden, um die Bürger mit Wasser zu versorgen. Über Hunderte Kilometer wird es aus dem Norden herangepumpt, um Golfplätze zu wässern, Swimmingpools zu füllen und Eiswürfel klimpern zu lassen.

Man muss sich dieses Künstliche, immerzu Bedrohte vor Augen führen, um zu begreifen, welche Rolle der Staat in solch einer Umgebung spielt. Er treibt nicht bloß Steuern ein und regelt den Verkehr. Er schafft erst das Fundament, auf dem alles andere ruht. »Unsere Eltern haben diesen Staat gebaut, im wahrsten Sinne des Wortes«, sagt Robert Greene, einer der Leitartikler der Los Angeles Times. Wir sitzen in einem großen, stillen Konferenzraum der Zeitung, die immer noch die wichtigste Kaliforniens ist. »In den Jahren nach dem Krieg, als die Wirtschaft boomte, hat die Generation unserer Eltern die Autobahnen, die Schulen, die Universitäten und die Staudämme errichtet, ohne die dieser Staat gar nicht existieren würde. Es wäre die Aufgabe meiner Generation, diese Infrastruktur weiterzubauen.«

Kalifornien bräuchte Hochgeschwindigkeitszüge, um den Dauerstillstand auf den Autobahnen zu beenden. Es müsste seine Stromversorgung auf Sonnenenergie umstellen. Seine Schulen sanieren, die von der weißen Mittelschicht längst gemieden werden. Doch es geschieht fast nichts. »Wir versagen«, sagt Greene, einer der leidenschaftlichsten und originellsten Unterstützer von Repair California. Für seine Kommentare zur Verfassungsinitiative wurde er sogar mit einem Preis ausgezeichnet.

»Wir vertrauen uns nicht mehr«, sagt Greene. »Das ist das Kernproblem. Die Wähler trauen der Politik nicht mehr. Deshalb haben wir ständig neue Volksabstimmungen, die das Parlament umgehen. Wir haben eine repräsentative Demokratie, aber wir misstrauen unseren Repräsentanten.«

Und mit jedem Tag ohne Haushalt verliert das System weiter an Rückhalt. Nie war das Ansehen der Politik in Kalifornien so katastrophal wie heute. »Die Bürger verachten die Politik«, sagt Jack Citrin, der Politikwissenschaftler aus Berkeley. Und je tiefer die Zustimmungsraten fallen, desto stärker wächst die Sehnsucht nach einfachen Lösungen.

Die einfachste aller Lösungen hieß Arnold Schwarzenegger. Als der Action-Star 2003 mit breitem Grinsen, aber ohne jede politische Erfahrung Gouverneur von Kalifornien wurde, da waren die Hoffnungen, die er weckte, so gewaltig wie seine Oberschenkel. Der Muskelmann versprach den Beginn einer neuen Ära. Im Wahlkampf fuchtelte Schwarzenegger mit Besen und Schaufeln herum, inszenierte sich als Mann, der »aufräumen« werde mit Lobbymächten, Stillstand und Haushaltskrise.

Wenn überhaupt etwas von Schwarzenegger bleiben wird, dann seine ehrgeizigen Gesetze zum Schutz der Umwelt. An der strukturellen Lähmung des Landes hat er nichts geändert. Das Projekt Außenseiter ist gescheitert. Der ehemalige Mister Universe ist zum politischen Zwerg geschrumpft. Kalifornien geht es schlechter als beim Amtsantritt des »Gouvernators«, seine republikanische Partei ist ihm nicht in die Mitte gefolgt, sondern weiter nach rechts gewandert, und Schwarzenegger hat alle Hoffnungen aufgegeben, seine Karriere in Washington fortsetzen zu können. »Jetzt, da Schwarzenegger sein Amt verlässt, sind die Wähler noch ein bisschen wütender als bei seinem Amtsantritt«, sagt Robert Greene von der Los Angeles Times. »Dabei waren sie vorher schon ziemlich wütend.«

Diese Wut wollten John Grubb und seine Mitstreiter vor zwei Jahren in eine politische Kraft umwandeln. An jenem Augusttag 2008 in Sacramento hatten sich die Leute vom Bay Area Council mit den Politikern stundenlang gestritten, sie wollten den Stillstand nicht hinnehmen. Am Ende fiel Don Perata, dem Präsidenten des kalifornischen Senats, bloß noch ein dummer Spruch ein. Wenn Grubb und seine Leute sich nicht mit den politischen Realitäten Kaliforniens abfinden wollten, sagte er, sollten sie »halt eine neue Verfassung schreiben«.

Es sollte ein Scherz sein. Aber auf dem Rückweg nach San Francisco fragten sich die Leute vom Bay Area Council: Warum eigentlich nicht? Warum starten wir nicht ein Volksbegehren für eine neue Verfassung? Warum schlagen wir das System nicht mit seinen eigenen Mitteln?

Ein paar Tage später, am 21. August 2008, forderte der Präsident des Bay Area Council, in einem Gastbeitrag im San Francisco Chronicle eine neue Verfassung. »Drastische Krisen verlangen drastische Maßnahmen«, schrieb er. »Normalerweise«, sagt Grubb, »bekommt man auf solch einen Artikel am ersten Tag drei Leserbriefe. Zwei von den eigenen Großeltern und einen von einem verrückten Professor. Diesmal bekamen wir zweihundert.«

Direkte Demokratie ist ein lukratives Geschäft

Das Telefon im Bay Area Council stand nicht mehr still. Freiwillige meldeten sich, um zu helfen, altgediente Politiker boten Unterstützung an. Die Menschen strömten in die town hall meetings von Repair California. Spenden flossen. Die Meinungsumfragen signalisierten 60 bis 70 Prozent Zustimmung. Die Kommentatoren der wichtigen Zeitungen jubelten, von Los Angeles bis New York. Der Oxford-Historiker Timothy Garton Ash schrieb im britischen Guardian, jeder Europäer, der sich ein offenes, dynamisches Amerika wünsche, müsse auf einen Erfolg von Repair California hoffen. Voller Enthusiasmus tüftelten Grubb und andere Mitglieder von Repair California mit Juristen ein Wahlverfahren für die verfassungsgebende Versammlung aus. Schließlich sollten am Ende nicht dieselben Parteipolitiker und Lobbyisten über die neue Verfassung entscheiden, die die alte ruiniert haben. »Aber wahrscheinlich war das ein Fehler«, sagt John Grubb im Rückblick. »Wir haben zu viel Zeit mit Entwürfen verbracht. Wir hätten viel früher anfangen müssen, Geld zu sammeln.«

Denn Demokratie ist teuer in Kalifornien. Sehr teuer. Wer eine proposition zur Abstimmung stellen will, braucht dafür mindestens drei Millionen Dollar. Für eine Kampagne, für Mitarbeiter, Anwälte und Fernsehspots. Am teuersten aber ist das Sammeln der Unterschriften. Das erledigen nicht Freiwillige, dafür ist der Bundesstaat zu groß, darum kümmern sich Profis. Für jede gültige Unterschrift kassieren sie zwischen 80 Cent und 1,20 Dollar. Ein lukratives Geschäft mit der direkten Demokratie, an dem vier, fünf größere Unternehmen in Kalifornien gut verdienen. Sie haben den Markt weitgehend unter sich aufgeteilt und arbeiten eigentlich mit jeder Initiative zusammen, ganz gleich, was die fordert.

1,6 Millionen Unterschriften hätte Repair California innerhalb von sechs Monaten zusammen bekommen müssen, so schreibt es das Gesetz vor. Das wäre machbar gewesen, vorausgesetzt, wenigstens einer der großen Unterschriften-Sammler hätte mitgemacht. »Aber wir haben die dunklen Künste dieser Industrie unterschätzt«, sagt John Grubb.

Die Profis weigerten sich, für Repair California zu arbeiten. Sie fürchteten um ihre Pfründe. Eine neue Verfassung würde das Parlament stärken und die direkte Demokratie beschränken: weniger Bürgerbegehren, weniger Unterschriften, weniger Umsatz. Eine einfache Rechnung.

Also musste Repair California für viel Geld Unterschriften-Profis aus Nachbarstaaten einfliegen. Leute, die sich nicht auskannten in Kalifornien. Die nicht genau wussten, wo sie ihre Stände aufbauen sollten. Und wo sie hingingen, erschien häufig die Polizei, um die Papiere zu kontrollieren. Oder es tauchten plötzlich die Unterschriftensammler für ein anderes Volksbegehren auf. Es gab Ärger, es gab Rangeleien. Das Sammeln stockte, die Zeit lief Repair California davon. Die Kosten explodierten, die Spenden flossen zusehends spärlicher. »Potenzielle Geldgeber«, sagt John Grubb, »erhielten Anrufe aus Sacramento. Die Botschaft war klar: ›Wenn ihr weiter Aufträge des Staates wollt, dann vergesst Repair California.‹« Namen will er nicht nennen.

Eines Tages klingelte auch bei John Grubbs Ehefrau Koren das Telefon, daheim in San Rafael, einem Vorort nördlich von San Francisco. »Es meldete sich ein Mann, der sich Rodney nannte. Er sagte, es werde meiner Familie schlecht gehen, wenn ich nicht aufhöre mit Repair California. Die Grubbs haben einen Sohn und eine Tochter.

Repair California wird am 2. November nicht zur Abstimmung stehen. Die Initiative hat ihre Arbeit im Sommer eingestellt. Die Wahldebatte konzentriert sich jetzt ganz auf die Nachfolge für Arnold Schwarzenegger. Gute Chancen auf das Gouverneursamt hat die Republikanerin Meg Whitman, eine blonde Mittfünfzigerin, die schon fast 120 Millionen Dollar aus ihrem Privatvermögen in den Wahlkampf gesteckt hat. Ende der neunziger Jahre hatte Whitman aus einer Internetklitsche mit 16 Angestellten den Online-Auktionsgiganten eBay gemacht – und sich selbst zur Milliardärin. Sie ist die neue Superheldin, die Kalifornien retten soll. Nur dass sie eben nicht aus Hollywood kommt, sondern aus Silicon Valley. Wie Schwarzenegger fehlt auch ihr jede politische Erfahrung. Aber sie kann mit großer Überzeugungskraft in jede Fernsehkamera sagen: »Ich weiß, wie man mit Geld umgeht. Ich weiß, wie man Probleme löst.« Und dann mit schmalen Augen hinzufügen: »Ihr Politiker in Sacramento, ich bin euer schlimmster Albtraum.« Gut möglich, dass Meg Whitman genug Stimmen bekommen wird, um den Albtraum fortzusetzen.

Recordings

  • long news article ( recorded by ena ), Sauerland / Westfalen

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Comments

commasplice
Oct. 17, 2010

vielen dank!

commasplice
Oct. 17, 2010

if you need a long english article let me know! I will read it for you in return.

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