Manche sagen ja, Gespenster wären keine Menschen. Die Gespenster von UNDERDOX wollen wieder welche sein und begeben sich deshalb auf Pilgerfahrt. Die Gespenster sind natürlich – in schönster Kindertradition – mit Bettlaken verkleidete Menschen.
Das ist kindisch? Nein, das ist Kino! Der Abschlussfilm des dieses Jahr zum sechsten Mal stattfindenden UNDERDOX-Festivals in München schert sich nicht um Konventionen und Image. Hier geht es um die große Lust am Spiel. An dem Absurden. An dem Undenkbaren. An dem, was immer alle gerne machen, auch wenn sie erwachsen sind: sich verkleiden.
Finisterrae, so heißt der gespenstische Abschlussfilm, bewegt sich im wahrsten Sinne in einem Zwischenreich, hier zwischen Tod und Leben, zwischen Gespenstsein und Menschsein. Ähnliches gilt im Prinzip für die alle Filme, die bei UNDERDOX laufen, dem Festival "zwischen Experiment und Dokument". Dazwischen sein: das heißt, Erzählkonventionen über Bord werfen. Der Plausibilität nichts geben. Das heißt auch, einen Dokumentarfilm zu machen, ohne das althergebrachte Informationsfutter zu liefern. Denn der Schwerpunkt von UNDERDOX – bei allen Spielformen – liegt auf dem Dokumentarischen, und was man mit ihm machen kann.
Der Eröffnungsfilm dieses Jahr stammt von einem, der in der Dokumentarfilmszene hoch angesehen ist. Er macht Filme im Stil des direct cinema: Kamera draufhalten, mithören, beobachten. Thomas Heise hat sich bislang vor allem als Dokumentarfilmer der Wende und des Post-Wende-Deutschlands hervorgetan, nun betritt er neues Terrain. In Sonnensystem zeigt er den Alltag indigenen Kollas in den Bergen Nordargentiniens. Dass Heise, gebürtiger Ost-Berliner, kein Spanisch kann, tut dem keinen Abbruch. Er wendet sich dem Volk und ihrem Leben zu, dass mehr ist, als es nur zu dokumentieren. Der Film ist eine Begegnung ohne Worte, eine Erzählung vom Kennenlernen und einander Sehen. (Donnerstag, 29.09., 20 Uhr, Filmmuseum, in Anwesenheit von Thomas Heise)
Geschichte wird im Film meist mit Filmschnipsel aus Archiven erzählt. Zwei der Filme bei UNDERDOX, die die Vergangenheit erforschen, arbeiten mit Fotografien: Der portugiesische Film 48 von Susana de Sousa Dias erforscht Portraitaufnahmen von politischen Gefangenen aus 48 Jahren Diktatur. Printed Matter ist ein belgisch-israelischer Film, in dem die Filmemacher Foighel & Efrat anhand von Foto-Kontaktbögen das Nebeneinander von politischer und privater Geschichte entdecken: die Intifada befindet sich hier gleich neben dem Sonntagsspaziergang. (Beide Filme Samstag, 18.30 Uhr, Filmmuseum, in Anwesenheit von Foighel & Efrat)
Weitere Programmschwerpunkte dieses Jahr bei UNDERDOX sind Artist in Focus: Ben Rivers und Firewalkers of Greece.
Mit Ben Rivers steht der FIPRESCI-Preis-Gewinner von Venedig 2011 auf dem Programm, außerdem einen der umtriebigsten britischen Filmkünstler. Seine Filme erforschen wilde Umgebungen und verschlossene Welten und fühlen sich an wie Erinnerungen an eine zukünftige Zeit. Sie sind wie mit einer Patina versehen, die seine Filme in eine unbestimmte zeitliche Ferne rücken und die sich vor allem seiner Arbeitsweise verdankt: Rivers dreht auf 16mm, mit einer Bolex, meist in Schwarzweiß, oft auf Material mit abgelaufenem Verfallsdatum und entwickelt das belichtete Material selbst. Wir zeigen seine 16mm Scope Trilogy! (Freitag, 30.09., 18.30 Uhr, Filmmuseum)
Griechenland geht es gerade sehr schlecht, und keiner spricht mehr von ihm als Kulturnation. UNDERDOX schon. Gastkurator Vassily Bourikas aus Athen hat in Zusammenarbeit mit der Greek Film Archive für uns das Programm Firewalkers of Greece zusammengestellt, mit Filmen von Joseph Hepp, Kameramann der ersten griechischen Wochenschauen in den 1910er Jahren und Regisseur früher Spielfilme mit Vilar, dem griechischen Buster Keaton, Roussos Koundouros, Chronist der 50er und 60er Jahre, und Marina Gioti, Filmemacherin und Videokünstlerin aus dem heutigen Athen. (Samstag, 01.10., 21 Uhr, Filmmuseum, in Anwesenheit von Vassily Bourikas)
Und wieder dabei sind auch dieses Jahr Spielfilme, neben den UNDERDOX Shorts (Sonntag, 20.30 Uhr, Werkstattkino, in Anwesenheit von Boris Lehman, Isabelle Martin und Nikolaus Eckhard) und den Müchener Künstlervideos (Dienstag, 22.30 Uhr, Werkstattkino), eine Freiheit von UNDERDOX, die sich andere Münchner Festivals nicht nehmen. Gezeigt wird Isild Le Bescos neuer Film Bas-Fonds (Freitag, 21 Uhr, Filmmuseum), ein echtes Torpedo-Stück aus Frankreich, fernab des Wir-sind-alle-lieb-zueinander-Nachbarschaftsmythos, der so gerne als französischer Arthouse in den deutschen Kinos läuft, dann La BM du Seigneur (Samstag, 1.10., 20.30 Uhr, Werkstattkino), der eine Zigeuner-Gemeinde in der Krise zeigt, zufäligerweise auch in Frankreich (Sarkozy möchte sie ja alle loswerden), sodann Das schlafende Mädchen (Montag, 3.10., 20.30 Uhr, Werkstattkino, in Anwesenheit von Rainer Kirberg) über Kunst als sadistsiche Versuchsanordnung bzw. über die allgemeine Frage: Darf man den, den man liebt, einsperren, um ihn für sich zu behalten? Und dann noch der eingangs erwähnten Abschlussfilm Finisterrae (Mittwoch, 5.10., 22.30 Uhr, Werkstattkino), ein absolut "lachhafter" (UNDERDOX) Film über die Pilgerschaft von zwei Gespenstern vom katalanischen Sonar-Festivalmacher Caballero.